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KULTUR
Vom Licht
in Schattenzeiten
Was haben Paris und Essen gemeinsam? Beide Städte sind Ausgangsort der Handlung einer großen
Geschichte. Der Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ des US-Autors Anthony Doerr wurde mit dem
Pulitzer-Preis in Belletristik ausgezeichnet und erzählt parallel die Lebenswege eines jungen Esseners
und einer Pariserin. Zum Start der Net ix-Ver lmung wirft das Essen-Magazin einen Blick auf beide
Werke und hat bei Anthony Doerr nachgefragt, wie ein Autor aus Ohio ausgerechnet auf Essen kommt.
Text: Nicola Schwedt
Zehn Jahre hat Anthony Doerr an der te verleiht. Die Annahme, ein Pulitzer- von amerikanischer Seite zu diesem
Idee gefeilt, eine Geschichte zu schrei- Preis-gekrönter Roman um ein blindes ema produziert wird. Das französi-
ben auf Basis einer Szene, in der ein Mädchen und einen Waisenjungen im sche Mädchen und der deutsche Junge
Junge im Dunkeln festsitzt und nur die Zweiten Weltkrieg müsse schwerer Sto werden gleichermaßen behandelt und
Stimme eines Mädchens ihn am Leben sein, der langatmig ist und kompliziert zu gleichermaßen sympathisch gezeichnet.
hält. Heute sind wir es gewohnt, zu jeder lesen, ist weit gefehlt. „Alles Licht, das wir Und auch die Orte sind so lebendig und
Zeit mit jedem kommunizieren zu kön- facettenreich beschrieben, dass es eine
nen, wir sind umgeben von Radiowellen Freude ist – wenn man St. Malo, Paris und
und Signalen, eben jenem Licht, das wir eben auch Essen kennt – mit den Figuren
nicht sehen. Diese Selbstverständlichkeit durch diese Städte zu streifen. Kleinig-
nahm Doerr als Ausgangspunkt und ging keiten wie die regionale Eigenheit, dass
mit seiner Geschichte zurück in eine Zeit, es hier „auf Zollverein“ heißt und nicht
in der die Kommunikation durch das Ra- „in“, geschenkt. Aber warum schreibt ein
dio neue Dimensionen annahm. Dabei US-amerikanischer Autor einen Roman,
herausgekommen ist ein vielschichtiger der in Essen, weitestgehend auf Zollver-
und äußerst lesenswerter Roman, der die ein spielt? Wir haben nachgefragt.
Lebenswege zweier Menschen von 1934 Warum haben Sie Essen als einen Ort
bis 2014 nachzeichnet. Die von Werner, der Handlung Ihres Romans „Alles
der in Katernberg aufwächst, und Marie- Licht, das wir nicht sehen“ gewählt?
Laure in Paris. Werner wohnt mit seiner War das eine zufällige Entscheidung
Schwester im Waisenhaus, die Mutter oder gibt es eine persönliche Verbin-
bei der Geburt gestorben, der Vater ver- dung hierher? Doerr könnte gut ein
unglückte unter Tage auf Zollverein. Ma- deutscher Name sein.
rie-Laure, die mit sechs Jahren erblindet, „Ich fürchte, ich habe keine familiären
lebt allein mit ihrem Vater, der Schloss- Wurzeln in der Gegend – zumindest kei-
meister im Naturkundemuseum ist. Als ne, von denen ich wüsste. Ich habe Essen
die Deutschen in Paris einmarschieren, wegen Zollverein gewählt. Soweit ich
rettet er einen sagenumwobenen Edel- mich erinnere, war Erdöl in den 1930er-
stein aus dem Museum und üchtet mit 200 Wochen in der NY-Times-Bestsellerliste und 40er-Jahren Mangelware, was dazu
Marie-Laure zu seinem merkwürdigen führte, das Deutschland in seinen Kriegs-
Onkel und dessen Haushälterin nach St. nicht sehen“ liest sich wie ein richtiger bestrebungen weit abhängiger von Koh-
Malo. Werner, dessen großes Talent es ist, Schmöker, der den Leser tief in seinen le war als zum Beispiel die Vereinigten
Radios zu reparieren, erhält unterdessen Bann zieht und es ihm schwer macht, Staaten. Daher wollte ich Werners Kind-
von den Nazis die Chance, auf eine Elite- das Buch wegzulegen. Der Roman be- heit im Ruhrgebiet verankern und den
schule zu gehen. Dort wird er ausgebil- sticht durch dreidimensionale und sehr Lesern eine Vorstellung von all diesem
det, feindliche Radios aufzuspüren. In greifbare Figuren, interessante Wendun- Rohmaterial geben – vorzeitliches P an-
kurzen, chronologisch clever verschach- gen und den Mut, an entscheidenden zenmaterial in Form von Kohle – das aus
telten Kapiteln entspinnt Doerr eine un- Stellen gegen den Strom zu schwimmen der Erde herausgefördert wird, um diese
glaublich spannende Geschichte um und auch mal vage zu bleiben. Er erzählt immense, industrielle und militärische
seine beiden Protagonisten, deren Leben eine sauber konstruierte Abenteuer-Ge- Maschinerie des Dritten Reiches anzu-
er sehr lange unabhängig voneinander schichte, ohne dabei jemals die Schwere treiben. Also habe ich entschieden, dass
und auf mehreren Zeitebenen verlaufen des emas zu vergessen, und bleibt in Werner in Essen geboren sein sollte, da-
lässt. Gleichzeitig wird der entwendete wichtigen Momenten trotz aller Erzähl- mit die Leser ihn und all die anderen Kin-
Serien-Regisseur und -Produzent Edelstein von einem unerbittlichen Nazi kunst realistisch. Besonders beeindru- der, mit denen er aufwächst, als weitere
Shawn Levy (l.) und Roman-Autor für Hitlers größenwahnsinniges Muse- ckend dabei ist die Nuanciertheit. Diese ‚Ressource’ betrachten, die eben auch
Anthony Doerr am Set von umsprojekt gejagt, was der Geschichte Geschichte ist alles andere als die übli- alle nur dem Zweck dienen, den Krieg
„Alles Licht, das wir nicht sehen“ zusätzlich eine Abenteuerkomponen- che Schwarz-Weiß-Malerei, die so gern weiter voranzutreiben.“
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