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PANORAMA (36) FOTOSTADT ESSEN PANORAMA (37) FOTOSTADT ESSEN
Text: Thomas Seelig
Mitte der 1960er Jahre beugt sich in der Folkwangschule in komplette museale Inventarisierung gelegt. Erst als diese abge-
Essen-Werden eine Gruppe von Fotostudierenden über einige schlossen ist, ziehen die rund dreitausend Abzüge in schweren
Originalabzüge aus dem 19. Jahrhundert. Aus der Nähe betrach- Rollschränken aus der Schule in Essen-Werden in die neuen
ten sie gemeinsam mit ihrem Lehrer Otto Steinert die Vorder- Räume der Fotografischen Sammlung am Museum Folkwang.
und Rückseiten der Blätter und erkennen an handschriftlichen Parallel dazu entwickelt Ute Eskildsen eine Reihe von ambi-
Nummerierungen, dass sie wohl ursprünglich in fotografischen tionierten Projekten, etwa die Rekonstruktion der legendären
Alben veröffentlicht wurden. Sie studieren die verschiedenen „Film und Foto“-Ausstellung (1979) sowie eine international viel
Tonungen der auf Karton aufgezogenen fotografischen Papiere beachtete Ausstellung zur Fotografie von Frauen in der Weima-
und lernen, dass Fotografien nicht nur Bildinformationen in sich rer Republik mit dem Titel „Fotografieren hieß teilnehmen“
tragen, sondern sich auch in ihrer Materialität manifestieren. (1994). Nicht zuletzt aber bringt sie Präsentationen auf den Weg,
in denen das zeitgenössische fotografische Denken wegweisend
Als herausragender Vertreter der subjektiven Fotografie und Mit- verhandelt wird.
gründer der Gruppe fotoform ist Otto Steinert 1959 von Saar-
brücken an die Folkwangschule für Gestaltung nach Essen ge-
wechselt und prägt dort zwei Jahrzehnte lang eine Generation
von jungen Fotostudierenden. Sein Engagement für die Foto-
grafie reicht dabei weit über die Lehre hinaus: So erwirbt er bei Als Leiterin der Fotografischen Sammlung hat
seinen regen Ausstellungstätigkeiten im In- und Ausland neben sich Ute Eskildsen von 1978 bis 2012 in vielerlei
Abzügen von Heinrich Kühn, Aenne Biermann oder László Hinsicht um die Förderung der Fotografie am
Moholy-Nagy aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer Museum Folkwang verdient gemacht. Dank ihrer
wieder auch Werke von befreundeten Zeitgenossen wie Peter Initiative konnten mit Hilfe der Alfried Krupp von
Keetman, Heinz Hajek-Halke, Toni Schneiders sowie Christer Bohlen und Halbach-Stiftung ab 1982 Stipendien
Strömholm und integriert sie in die wachsende Schausammlung. für „Zeitgenössische deutsche Fotografie“ sowie
ab 2000 Stipendien für angehende „Museums-
Für die Studierenden ist Otto Steinert ein engagierter, prägen- kuratoren für Fotografie“ ins Leben gerufen werden;
der, aber auch strenger Lehrer. Im kulturellen Leben der Stadt seit 1999 engagiert sich die Wüstenrot Stiftung
tritt er als begnadeter Netzwerker auf. So kann er ab 1959 in der mit je vier Förderpreisen mit Fokus auf aktueller
von ihm erdachten Reihe „Beiträge zur Geschichte der Foto- künstlerischer Dokumentarfotografie; die Dietrich-
grafie“ jährlich eine Ausstellung im Museum Folkwang ein- Oppenberg-Stiftung fördert den Albert-Renger-
richten und skizziert schon damals die Idee einer städtischen Patzsch-Fotobuchpreis, während die Stiftung
„Sammlung zur Geschichte der Fotografie“. Als 1961 bei einer Presse-Haus NRZ Neuerwerbungen im Kontext
der ersten europäischen Auktionen in Genf Abzüge und Alben dokumentarischer Fotoprojekte unterstützt.
aus der Frühzeit der Fotografie angeboten werden, gelingt es Darüber hinaus engagieren sich seit über
ihm, die Politik der Stadt davon zu überzeugen, sich mit einem zwanzig Jahren die Freunde der Fotografischen
Betrag von 25.000.- DM zu engagieren – seinerzeit ein mehr als Sammlung sowie der Folkwang-Museumsverein
nennenswerter Betrag! bei geplanten Ankäufen.
Zu dieser Zeit wird Fotografie mit Ausnahme von wenigen deut-
schen Museen institutionell noch nicht kontinuierlich gesam-
melt. Die Ausstellungsgeschichte am Museum Folkwang reicht
allerdings bis in die späten 1920er Jahre zurück. Parallel zur in
Stuttgart gezeigten Avantgarde-Schau „Film und Foto“ wird
1929 in Essen die ebenso ambitionierte Ausstellung „Fotogra-
fie der Gegenwart“ entwickelt, die danach in einigen deutschen
Kunstvereinen von Städten wie Leipzig, Frankfurt am Main und
Rostock sowie in der Whitechapel Gallery in London präsentiert
wird. Schon 1933 widmet das Museum der Bauhaus-Schülerin
Florence Henri eine viel beachtete Einzelausstellung.
Als Otto Steinert 1978 verstirbt, hat sich das Bewusstsein um den
Wert künstlerischer Fotografie in Deutschland Schritt für Schritt
entwickelt. Der Weitsicht des damaligen Direktors des Museums
Folkwang, Paul Vogt, sowie der Expertise von Ute Eskildsen, die
Steinert lange Jahre assistiert hat und zur ersten Leiterin der Foto-
grafischen Sammlung berufen wird, ist es zu verdanken, dass die
über Jahre zusammengetragene Sammlung für Essen nicht nur
gesichert, sondern auch kontinuierlich weiterentwickelt und sub-
stanziell ausgebaut wird. Steinerts Idee einer Schausammlung
trägt sich in die Gegenwart weiter: Bis heute können nach vor- Jeanne Mandello, Ute Eskildsen und Eva Besnyő
heriger Anmeldung jeweils am Donnerstag im Studienraum des bei der Eröffnung der Ausstellung Fotografieren hieß teilnehmen
Museums Originalfotografien aus dem Depot gesichtet werden. am 15. Oktober 1994
In den ersten Jahre wird hinter den Kulissen der Fokus auf die © JENS NOBER/MUSEUM FOLKWANG Volker Heinze Bill Eggleston, 1985 © VOLKER HEINZE