Page 49 - Magazin Fotostadt
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SAMMELN [48] [49] FOTOSTADT ESSEN
Das Ruhrgebiet und die Fotografie haben seit So wurde über Jahrzehnte ein enormer
jeher ein besonderes Verhältnis: Die Industrie Fundus an Bildern erzeugt, der in den unter-
und das Aufzeichnungsmedium teilen eine schiedlichsten Archiven und Sammlungen
Geschichte, die ziemlich genau gleich lang schlummerte, zum Teil in seinem Bestand ge-
ist. Das Jahr 1837 markiert die Entstehung des fährdet, weil manches entbehrlich schien und
Reviers im eigentlichen Sinne, da seitdem die entsorgt oder nicht sachgerecht gelagert und
Förderung von Fettkohle möglich war – und dadurch zerstört wurde.
es ist zugleich die Zeit, in der Daguerre die Das Ruhrland-, später Ruhr Museum hat
Erfindung anmeldete, die 1839 erstmals mit Ende der 1980er Jahre – seinerzeit für ein Mu-
der Bezeichnung „Photographie“ beschrieben seum zur Natur- und Sozialgeschichte sehr
wurde. Die Industrialisierung brachte zahlrei- ungewöhnlich – eine eigene Abteilung für an-
che grundlegende Technologien hervor, neue gewandte Fotografie mit einem Archiv einge-
Maschinen kamen zum Einsatz, die Eisenbahn richtet und hat damit einen wesentlichen Bei-
wurde ausgebaut und in kurzer Zeit entstan- 2 trag zur Bewahrung und Sicherung einer der 3 4
den erste Industriegebiete. Dass eine solche bedeutendsten bildlichen Überlieferungen in
Epoche ein ihr angemessenes Medium förder- dieser Region geleistet. Der Bestand versammelt
te, scheint rückblickend nur folgerichtig. Nach- und Vorlässe, Ankäufe und Schenkungen
Das Ruhrgebiet und das Medium Foto- zuletzt Orte zur Sicherung bildlicher Bestän- vor allem von Bildjournalisten, Werksfotogra- entstanden. Behandelt wurden wichtige Epo-
grafie sind seit dieser Zeit eng verbunden: An- de wie Archive in Unternehmen und Museen. fen, Freischaffenden, Studios oder Firmen. Der chen wie die Zeit nach dem Ende des Zwei-
ders als „klassische“ Landschaften wurde das Das Revier fungierte als Versuchslabor für beträchtliche Bestand an Auftrags- und Unter- ten Weltkriegs („Bildberichte. Aus dem Ruhr-
Ruhrgebiet selten in Öl gemalt oder in Holz alle fotografischen Techniken und Genres, für nehmensfotografie umfasst komplette oder gebiet der Nachkriegszeit“, 1995), die 1960er
geschnitten – es wurde vor allem fotografiert. alle visuellen Strategien, Moden und individu- Teilsammlungen der IBA Emscherpark, der Jahre („Als der Himmel blau wurde. Bilder aus
Die Fotografie spielte hier die entscheidende ellen Stile. Von Anfang an boten sich im Über- Stadtwerke Essen und der Stadtbildstelle Essen den 60er Jahren“, 1998) oder die Jahrzehnte
Rolle bei der Prägung bildhafter Vorstellungen. fluss die spektakulären Motive der Schwer- sowie dem historischen Glasplattenarchiv der des Umbruchs („Alles wieder anders. Fotogra-
Sie kam flächendeckend, pausenlos und industrie an, daneben Ansichten der von ihr Emschergenossenschaft als Depositum. fien aus der Zeit des Strukturwandels“, 2010).
von allen Seiten zum Einsatz – keine deut- existenziell geprägten Umwelt, der Bevölke- Als Bildgedächtnis der Region bietet das Thematisch-chronologische und mono-
sche Region dürfte in den letzten 150 Jahren rung und ihrer Lebenswelten. Nach dem Ende Fotoarchiv des Ruhr Museums vielfältige Ein- grafische Konzepte liegen bei einem solchen
gründlicher ins Bild gesetzt worden sein. Hier der alten Industrien ermöglichte die Region blicke in das Schaffen von Fotografen seit Mitte Fundus nahe. Darüber hinaus wurden immer
fanden sich von Anfang an Fotografen und dann Beobachtungen des permanenten Wan- des 19. Jahrhunderts bis heute, in die Entwick- wieder auch andere Zugriffsmöglichkeiten
Auftraggeber, Firmen wie Krupp, Thyssen dels aller Lebensbereiche und die Aufmerk- lung des Mediums, nicht zuletzt auch in die gewählt, um das Material sozusagen neu und
oder Haniel erkannten sehr schnell das Poten- samkeit der Fotografen und Fotografinnen Arbeit des Sammelns und Aufbewahrens. Das anders zum Sprechen zu bringen. So entstand
zial des neuen Mediums und nutzten es syste- richtete sich auf neue Bildgegenstände. Die er- Themenspektrum ist breit: Es reicht vom The- im Rahmen von Historama 2000 mit der Aus-
matisch für ihre Zwecke. So etablierte Krupp gaben sich vor allem aus dem Umgang mit den ma Arbeit, das im Ruhrgebiet einen besonderen stellung „Schwarzweiß und Farbe. Das Ruhr-
als Vorreiter schon 1861 eine betriebsinterne Hinterlassenschaften der Montanindustrie, ei- Stellenwert hat, und den Stätten dieser Arbeit, gebiet in der Fotografie“ die erste Ikonografie
Photographische Anstalt und leistete sich von ner revidierten Definition von Arbeit und dem also vornehmlich Industrieanlagen, bis hin zur der Ruhrgebietsfotografie. Zu den Themen
Anfang an einen eigenen Werksfotografen, neuen Phänomen der Industriekultur. Über Landschaft, die hier meist als Industrieland- von Ausstellungen und Katalogen gehörten
ehe andere Firmen folgten. Schon damals gab alle Phasen der Entwicklung hinweg lässt sich schaft ins Bild kommt. Die großen bildjourna- regionale und Stadtgeschichte mit Schwer-
es Publikations- und Ausstellungsmöglichkei- die grundlegende und konstante Botschaft der listischen Konvolute decken Ressorts wie Poli- punkten wie Wohnen, Arbeiten, Bildung oder
ten, die ersten auf Messen und in Produktka- Bildgeschichte des Reviers im Begriffspaar tik und Sport ab. Umfangreich vertreten sind Freizeit der Menschen im Ruhrgebiet („An-
talogen, es gab Ausbildungsstätten und nicht Modernität und Wandel zusammenfassen. fotografische Beobachtungen des Wandels der sichtssachen. Bilder von Essen“, 2002). Das 5
Region durch Umbau bzw. Umgestaltung, Ab- Medium Fotografie selbst stand 2004 im
riss und Neubau. Zu den interessantesten Be- Mittelpunkt der Ausstellung „Wirklich wahr! geschichtlich höchst bedeutsamen Bestands-
reichen gehören die Bilder, die den Alltag der Realitätsversprechen von Fotografien“. Als vir- aufnahmen der Übertageanlagen von Steinkoh-
Menschen im Ruhrgebiet betreffen. Dieser All- tueller Sammlungskatalog erschien 2006 die lenbergwerken aus den 1950er Jahren gezeigt,
tag spiegelt sich nicht nur in den bildjourna- CD „Ruhrgebietsbilder“ mit 1.400 Bildern, die fotografiert von Josef Stoffels, der sich zum
listischen Arbeiten, sondern auch in der Über- vom Nutzer interaktiv verwendet werden kön- Experten auf diesem Gebiet ausgebildet hat- 1 Zeche Consolidation, Schachtanlage 1/6,
lieferung von Fotoateliers, deren Bestände von nen. Gezeigt wurde diese Auswahl 2008 unter te. Ebenfalls 2018 stand Albert Renger-Patzsch Fördergerüst Schacht 1,
Gelsenkirchen, um 1954
Pass- über Hochzeitsfotografie bis zu Aufnah- dem Titel „Alle Bilder sind schon da!“ als Pro- mit seinen Aufnahmen aus dem Ruhrgebiet im JOSEF STOFFELS
men von Kultureinrichtungen und Gewerbe- jektion in der Kohlenwäsche auf Zollverein. Fokus der Reihe monografischer Ausstellun- FOTOARCHIV RUHR MUSEUM
betrieben reichen. Hierhin gehört auch der kul- 2012 erschien dann der erste Sammlungskata- gen. Renger-Patzschs stilbildende Fotografien
turgeschichtlich besonders interessante Bereich log: „Von A bis Z. Fotografie im Ruhr Muse- von Ruhrgebietslandschaften der Jahre 1927 bis 2 Vor dem Werksgelände der
der Werbung. Inzwischen ist die Sammlung auf um“, der die verschiedenen Bestände vorstellt 1933 stehen für die Entdeckung der Industrie- Hüttenwerke Oberhausen AG,
Oberhausen, um 1960
über vier Millionen Bilder angewachsen. und Einblicke in ihre Bearbeitung gibt. landschaft als künstlerisches Bildmotiv. RUDOLF HOLTAPPEL
Mittlerweile sind zahlreiche Ausstellun- 2014 wurde unter dem Titel „Chargeshei- Das Fotoarchiv des Ruhr Museums hat FOTOARCHIV RUHR MUSEUM
gen, Kataloge, Editionen und Kalender mit mer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets“ umfang- sich mit seinen vielfältigen Aktivitäten als be- 3 Rüstungsproduktion in der Maschinen-
vielen Tausenden von Bildern aus der Region reiches Bildmaterial aus dem Kontext seines be- deutende Institution zur Bewahrung des kul- fabrik Meer AG, Mönchengladbach, 1941
rühmten Buches „Im Ruhrgebiet“ gezeigt, das turellen Erbes der Region etabliert. Darüber RUTH HALLENSLEBEN
1958 mit Texten von Heinrich Böll erschienen hinaus sammelt es aktiv weiter, um den Bil- FOTOARCHIV RUHR MUSEUM
Keine deutsche Region war. Die Ausstellung „Erich Grisar. Ruhrge- derfundus durch wichtige Bestände der jüngs- 4 Zeche Victoria Mathias, Essen, 1929
dürfte in den letzten bietsfotografien 1928–1933“, ein Kooperations- ten Vergangenheit zu erweitern. ALBERT RENGER-PATSCH
Wo einst Kohle gefördert wurde, ist jetzt
projekt mehrerer Ruhrgebiets-Institutionen,
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150 Jahren gründlicher versammelte 2016 erstmals unveröffentlichtes das Bildgedächtnis des Ruhrgebiets im Ruhr VG BILD-KUNST 2021
ins Bild gesetzt worden Bildmaterial des bislang allenfalls als Schrift- Museum auf Zollverein beheimatet. Ein sym- 5 Sonntagsspaziergang, Duisburg, 1969
1 steller bekannten Dortmunders Erich Grisar. bolischer Ort und ein kostbarer Schatz, der die
sein als das Ruhrgebiet. 2018 wurden die umfangreichen und industrie- Geschichte der Region eindrucksvoll spiegelt. JÜRGEN HEBESTREIT
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