Page 61 - Magazin Fotostadt
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        ALLE FOTOS:
        © ERGUN ÇAĞATAY/                         Selbstbildnis des Fotojournalisten Ergun Çağatay in Grubenkleidung vor Beginn der „Anfahrt“,
        FOTOARCHIV RUHR MUSEUM/
        STADTMUSEUM BERLIN/                      Bergwerk Walsum, Duisburg, April/Mai 1990
        STIFTUNG HISTORISCHE
        MUSEEN HAMBURG



 Er  war der Mann für die großen Fotoserien: Ergun   Bild oben:    ment des Scheiterns: Weder gelang die Integration der tür-  Çağatay fotografierte Hochzeiten, Obst- und Gemüsehänd-
 Çağatay  (gesprochen „Tschahatai“), 1937 in Istanbul geboren   Kinder mit Luftballons, Sudermannplatz,    kischen Migranten 1990 – noch gelang es Çağatay wirklich,   ler, Arbeiterinnen und Arbeiter bei Ford, Moscheen (meist
 und dort 2018 auch gestorben, ging immer wieder Projekte   Köln-Agnesviertel, April 1990   dieses gesellschaftliche Versagen in Fotografien festzuhalten.   im Hinterhof), türkische Mädchen auf dem „Polenmarkt“
 an,  die  von kühnem dokumentarischem Ehrgeiz geprägt   Nicht etwa,  weil hier und dort eine ungewollte Un-  in Berlin, Bauchtanz-Abende, Jugend-Gangs, Wartende auf
 waren, fast mehr Mission als journalistisches  Anliegen:   schärfe festzustellen ist oder ein mitunter schmerzhaftes   der  Ausländerbehörde und eine  wütende Demonstration
 Flüchtlingslager  in Bangkok, die Umweltkatastrophe des   Austesten der Leistung, die man einem Weitwinkelobjektiv   gegen ein neues Ausländergesetz. Es sind Alltagsbilder, aber
 Aralsees und illuminierte Handschriften im Topkapi-Muse-  abverlangen kann.  Aus fotografischer Perspektive handelt   dem  Alltag der gescheiterten Integration  von  Türken in
 um lichtete er voller Sorgfalt ab, für eine voluminöse Buch-  es sich bei den Aufnahmen um gutes Handwerk, wie man   Deutschland kommen sie nicht recht auf den Grund, auch
 Dokumentation reiste er Mal um Mal zu den turksprachi-  es von Agentur-Fotografie erwarten kann – neben den ex-  in Serie nicht. Das Scheitern der Integration war und ist ein
 gen Völkern in Zentralasien.   zellenten Kompositionen, die es darunter auch gibt, wären   komplexer  Prozess  voller  Wechselwirkungen,  dessen  Ver-
 Wie so viele Profis seiner Generation brachte sich der   in der Dunkelkammer, wären im Setzen von Ausschnitten   ständnis die Fotografie an ihre Grenzen bringt.
 Rechtsanwaltssohn Çağatay das Fotografieren selbst bei – an -   gewiss  noch  Klasse-Bilder hinzugekommen. Aber  Çağatay   Gleichwohl hat Çağatay einen Ist-Zustand abgelichtet.
 geheuert  hatte  er  bei  einer  Agentur  als  Texter.  Weil  er  für   mag geahnt haben, dass er als Fotoreporter mit nur wenigen   Einen entscheidenden Augenblick zwischen dem deutsch-
 internationale Auftraggeber genauso arbeitete  wie für  die   Tagen Zeit hier und dort nur selten zu wirklich charakte-  türkischen Anwerbe-Abkommen von 1961 (kurz nach dem
 türkische  Presse, war  der  Freelancer vielseitig  bis  hin  zur   NOCH BIS ZUM BIS 31. OKTOBER 2021    ristischen, vielsagenden Motiven und Aufnahmen kommen   Mauerbau) und der Selbst-Anerkenntnis Deutschlands als
 Dokumentation dramatischer  Augenblicke einer Leber-  Aktuelle Ausstellung im Ruhr Museum, Zollverein Essen  würde.   Einwanderungsland zur Jahrtausendwende. Das Essener
 transplantation, ein Bild, das es 1982 auf den Titel des „Li-  Ja, da gelang das großartige Bild zweier Kinder mit IG-  Ruhr Museum konnte sich  Çağatays Konvolut 2020 mit
 fe“-Magazins schaffte. In der Pariser Agentur Gamma, für   Wir sind von hier.    Metall-Luftballons  vor einer  Altbau-Häuserwand, auf die   Hilfe der  Alfried Krupp  von Bohlen und Halbach-Stif-
 die er längere Zeit arbeitete, hatten sie ihm das eine oder   Türkisch-deutsches Leben 1990.  jemand einen riesigen Baum gemalt hat, rechts und links   tung sichern. Mit der historischen Kontextualisierung der
 andere Projekt abgelehnt, das sich später als  wegweisend   auf Deutsch und Türkisch flankiert von der letzten Strophe   Fotoserie in der Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-
 herausstellen sollte. Die Großserie über Armut im Süden   Fotografien von Ergun Çağatay  des Gedichts „Davet“  („Einladung“), dem  wohl bekann-  deutsches Leben 1990“  wird sie doch zum  vielsagenden
 des  Globus  etwa  sollte  später  Çağatays  Kollege  Sebastião   testen  von Nâzım  Hikmet in Deutschland, nicht zuletzt   Dokument, flankiert  von  Videointerviews, etwa mit der
 Salgado umsetzen, wenn auch etwas anders als gedacht.   116 Fotos, Multimedia-Installation mit wechselnden    durch die  Adaption  von Hannes  Wader: „Leben einzeln   Soziologin Necla Kelek, dem Sternekoch Ali Güngörmüş
 So bekam  Çağatay Ende der 1980er Jahre den Segen   Fotos von Çağatay; 8 Video-Interviews.    und frei wie ein Baum / Und brüderlich wie ein Wald / ist   oder der Profi-Fußballerin Tuğba Tekkal, die mit Rückbli-
 für sein Vorhaben, die zweite Generation von Arbeitsimmi-  Beschriftung deutsch und türkisch.    unsere Sehnsucht.“ Ein Bild  von Utopie und Realität in   cken in ihre Biografien für das Leben hinter den Bildern
 granten in Nord- und Westeuropa zu porträtieren. Den An-  Geöffnet: Mo–So 10–18 Uhr. Eintritt: 7 €, erm. 4 €    einem, voller Hoffnung und skeptischer Bestandsaufnahme.   stehen. Dass das durchweg zweisprachige Projekt von hier
 fang machte eine Reportage-Reise im Frühjahr 1990 nach   Katalog (Edition Braus): 29,95  €   Und einmal, im Duisburger Stadtteil Hamborn, posierten   aus auf Wanderschaft nicht nur nach Hamburg und Berlin
 Deutschland. In Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg   Kostenloses Magazin: „Wir bleiben hier“    Bergarbeiterfamilien vor gammeliger Hausfassade stolz um   gehen wird, sondern auch nach Istanbul, Ankara und Iz-
 fotografierte  Çağatay; aber die 3477 Bilder  von türkischen   Großes Veranstaltungsprogramm:    ihren Daimler-Benz – und ließen ihn sogar ins Schlafzimmer,   mir, gibt ihm jene politisch-gesellschaftliche Dimension,
 Menschen, die er dort in Schwarzweiß-Negativen und Farb-  ↗ www.ruhrmuseum.de  wo zwei Eheleute (sie mit Kopftuch) in einer Wolke aus Rosa   deren Fehlen  Çağatay zum Aufgeben seines Projekts be-
 diapositiven festhielt, sind in doppelter Hinsicht ein Doku-  bei aller Züchtigkeit so lässig wie möglich thronen.   wegt haben mag.
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