Page 40 - Essener Stadtmagazin_3_2025
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KULTUR




























                                                                                                Weder Kind noch
                                                                                                erwachsen: Angelika
                                                                                                (Lena Urzendowsky)
                                                                                                betrachtet die
                                                                                                Veränderungen an
                                                                                                ihrem Körper.

          Das größtmögliche Vergnügen bereitet die-  passen Handlungsfetzen und Motive auf un-  Christa mit ihrer jungen Familie einzieht, ist
          ser Film dem Zuschauer, der vollkommen   heimliche Weise zusammen, gehen traum-  das Landleben nicht so unbeschwert wie er-
          unwissend hineingeht und sich einfach auf   ähnlich fließend von einer Geschichte zur   träumt. Die Erlebnisse auf diesem Hof lasten
          ihn einlässt. Das erfordert aber eine gehöri-  nächsten,  bis  man  Mühe  hat,  sie  klar  aus-  wie eine Erbschuld auf den Bewohnern und
          ge Portion Offenheit. Wer also mutig ist, hört   einanderzuhalten. Gemeinsam haben alle   scheinen durch alle Zeiten in unterschiedli-
          hier auf zu lesen, geht ins Kino und liest spä-  Zeiten, dass ihre Hauptfigur ein Mädchen   cher Gestalt wiederzukehren.
          ter weiter – nimmt aber in Kauf, dass der Film   oder eine junge Frau ist, die an der Schwelle   Mascha Schilinski hat mit ihrer Co-Autorin
          anders funktioniert als andere Filme.  steht, vielleicht nicht direkt zum Erwachsen-  Louise Peter einen Film geschaffen, in den der
          „Mir ist es wichtiger, dass man einen Film   werden, aber in jedem Fall zum Verlieren   Zuschauer zu Beginn erst hineinfinden muss,
          fühlt,  als  dass  man  ihn  versteht“,  erklärte   der kindlichen Unbeschwertheit. Und unbe-  der dann aber fasziniert und lange nachhallt.
          Regisseurin und Autorin Mascha Schilinski   schwert ist wenig im Leben auf dem Bauern-  Dies verdankt er neben der schauspieleri-
          bei der Pressekonferenz in Cannes. „In die   hof – durch alle Zeiten.   schen Ensembleleistung besonders der au-
          Sonne schauen“ ist tatsächlich ein Film, der   Die Kamera und mit ihr der Zuschauer be-  ßergewöhnlichen Kameraarbeit sowie einem
          eher ein Erlebnis darstellt als eine Geschich-  wegen sich durch die Geschichten wie ein   gekonnten Schnitt und Sounddesign. Dieser
          te erzählt. In überraschend kurzweiligen 149   Geist, ein stummer Zeuge in fremden Er-  Film wird polarisieren. Menschen werden
          Minuten erzählt er Fragmente von Geschich-  lebnissen. Zuweilen entsteht flüchtig der   die unkonventionelle Art feiern und andere,
          ten, die sich anfühlen, als ginge man in den   Eindruck, die Figuren im Film nähmen den   die ihre Geschichten gern schlüssig erzählt
          Erinnerungen anderer Leute spazieren. Und   Beobachter wahr. Das Spiel der erlebenden   mögen, eben nicht. Ob die darunter liegen-
          das macht er so intensiv, dass es nach dem   Mädchen in den jeweiligen Zeitschienen ist   de Message nicht etwas subtiler hätte trans-
          Abspann scheint, als wäre man irgendwo an-  dabei beeindruckend intensiv, allen voran   portiert werden können, ist Geschmackssa-
          ders gewesen, auf jeden Fall sehr weit weg.  die neunjährige Hannah Heckt als Alma.   che, ändert aber nichts daran, dass der Film
          Die Konstante im Film ist ein Bauernhof in   Ihr durch das düstere Leben auf dem Hof   eine spannende Erfahrung darstellt, die zum
          der Altmark in Sachsen-Anhalt. Auf vier Zeit-  zu  Beginn des  Jahrhunderts  zu  folgen  und   mehrfach Anschauen einlädt. „In die Sonne
          ebenen werden Geschichten aus dem Leben   durch Kinderaugen die grausame Welt des   schauen“ kann nur im Kino richtig wirken, zu
          dort während eines Jahrhunderts erzählt. Die   Erwachsenenlebens zu entdecken, erzeugt   sehen eben dort ab 28. August.
          früheste Ebene spielt vor dem ersten Welt-  einen unterschwelligen  Grusel,  der  seines-
          krieg,  die  zweite  in  den  1940ern,  die  dritte   gleichen sucht. Zu diesem Leben gehört   Nicos Fimtipp
          zu DDR-Zeiten in den 1980ern und die vierte   unweigerlich auch der Tod, der hier in allen   EMG-Filmexpertin Nicola
          heute. Gedanklich sollten zwischen diesen   Zeiten gegenwärtig ist. Das ändert sich auch   Schwedt realisiert alle
          Zeiten Welten liegen, und doch kehren Er-  in den 1940er Jahren bei Lea Drinda als Erika   touristischen Filmpro-
          lebnisse und Geschehnisse auf unterschied-  nicht, die eine merkwürdige Faszination für   jekte der Stadt Essen.
          liche Art wieder. Erzählt in außergewöhn-  den versehrten Onkel hegt. Lena Urzendow-  Sie gehört zum Team
          lichen Bildern, die ähnlich Erinnerungen   skys Leben als heranwachsende Angelika   des Snowdance Independent Film
          nicht immer klar sind, nicht immer logisch,   auf dem LPG-Bauernhof ist zwar um einiges   Festivals. Als Partnerin der Film- und
          zieht der Film den Zuschauer langsam aber   bunter als das von Alma, Erika und deren Ge-  Medienstiftung NRW kümmert sie
          sicher tief in seinen Bann. Die Erzählzeiten   schwistern, aber nicht minder beklemmend.   sich außerdem um Film- und Fernseh-
          wechseln von einer zur anderen, und doch   Selbst in der Jetztzeit bei Luise Heyer, die als   produktionen in Essen.


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