Page 73 - Essen_Magazin_2023_02
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LIVING
 KULTUR                                                                                                       KULTUR



















 Bill Nighy beschließt als verknöcherter Beamter nach
 einer fatalen Diagnose, sein Leben im England der
 frühen 1950er-Jahre zu ändern. Das macht er anders,
 als man denkt und außerdem großartig.


 „Ikiru“, zu Deutsch „leben“, unter die-  gänger nun in Farbe. Die steifen Her-
 sem Titel verfilmte Akira Kurosawa  ren mit Bowler-Hüten und Anzügen
 1952 die Geschichte von Kanji Wata-  streifen durch ein herrlich grobkörni-
 nabe, einem städtischen Verwaltungs-  ges London, dessen Kulisse ein High-
 beamten, der seiner verbleibenden  light des Films ist. Hauptdarsteller Bill
 Lebenszeit einen Sinn geben will. 70  Nighy schafft es in beeindruckendem
 Jahre später heißt Herr Watanabe Mr.  Maße nuanciert, die volle Bandbreite
 Williams. Kazuo Ishiguro, britischer Li-  der Gefühle hinter der Fassade des in
 teraturnobelpreisträger und Autor von  sich gekehrten Mr. Williams auszuspie-
 „Was vom Tage übrig blieb“ und „Alles,  len, frustriert und unendlich routiniert,
 was wir geben mussten“, adaptierte das  aber gleichzeitig tief im Inneren ent-
 Drehbuch und verlegte die Handlung  schlossen und sympathisch. Für seine
 von Japan nach England.   Performance wurde er nicht umsonst
 Mr. Williams (Bill Nighy, „Tatsächlich…  dieses Jahr für einen Oscar nominiert.
 Liebe“, „Pirates of the Caribbean“) ist  Mit Aimee Lou Wood („Sex Education“)
 Leiter einer Abteilung für die Vergabe  als seiner ehemaligen Mitarbeiterin
 öffentlicher Bauaufträge in London. Er  und einzigen Vertrauten an seiner Seite
 funktioniert wie ein Uhrwerk und ver-  ist es eine Freude, beiden in ihrem Spiel
 langt dies auch von seiner Handvoll  miteinander zuzusehen. Obwohl „Li-
 Mitarbeitern,  die  scheinbar akribisch  ving“ eine eigentlich kleine Geschich-
 Anträge bearbeiten, sie am Ende des  te erzählt, hallt diese doch lange nach.
 Tages aber doch nur von einem auf  Das Leben ist endlich, diese Weisheit ist
 den nächsten Ablagestapel legen. Und  universell und in diesem Fall gekonnt
 so funktioniert der komplette Verwal-  auf die Leinwand gebracht, mit Ruhe
 tungsapparat.  Anhand  einer  Gruppe  erzählt, aber nie langweilig, gefühlvoll,
 von Frauen, die unermüdlich dafür  jedoch nicht kitschig. Wer die Chance
 kämpft,  im  zerbombten  Nachkriegs-  hat, gönne sich Nighys heisere Stimme
 London einen Spielplatz errichten zu  im Original. „Living“ ist ein Film für
 dürfen, aber immer nur von einem Amt  alle, die die großen, britischen Litera-
 zum nächsten geschickt wird, wird der  turverfilmungen mögen oder mal einen
 Irrsinn des gesamten Systems deutlich.  Antrag in einer Behörde gestellt haben.
 Williams,  selbst  nicht  anders  als  die  Ab 18. Mai im Kino.
 anderen Beamten, erhält schließlich
 die Diagnose, dass er nicht mehr lange   EMG-Filmexpertin Nicola
 leben wird. Sein immer gleiches und   Schwedt realisiert alle
 scheinbar irrelevantes Dasein betrach-  touristischen Filmprojek-
 tend, versucht er sich ins Vergnügen zu   te der Stadt Essen. Sie
 stürzen, bevor er einen angemessene-  gehört zum Team des
 ren Weg findet, seiner verbleibenden   NICOS FILMTIPP  Snowdance Independent
 Zeit einen Sinn zu geben.  Film Festivals, das seit 2023 in Essen statt-                     Im London der 1950er-
 Der südafrikanische Regisseur Oliver   findet, und kümmert sich als Partner der           Jahre läuft das Leben von
 Hermanus erzählt die Geschichte des   Film- und Medienstiftung NRW um Film-                 Mr. Williams (Bill Nighy)
 Mr. Williams in sehr hübsch kompo-  und Fernsehproduktionen in Essen.                          exakt nach Zeitplan
 nierten  Bildern,  anders  als  sein  Vor-



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